7 · Drift
Scan fehlgeschlagen. Subjekt kann nicht lokalisiert werden.
...
Scan fehlgeschlagen. Destination außer Reichweite.
...
Scan fehlgeschlagen. Objekt nicht detektierbar.
...
»Kiro, meinst du nicht, du solltest langsam ...«
»Mmmm«, brummte Azur Pegasus' Einwand davon. Seine Wange blieb an der angenehm kühlen Tischplatte wie angeklebt. Ein Arm hing ihm müde herab, mit der anderen Hand schob er geistesabwesend immer noch ein Objekt nach dem anderen aus dem kleinen Totem-Beutel abwechselnd über das Detektorfeld. Schon seit einer Stunde betrachtete er schon gar nicht mehr die immer gleichen roten Zeilen des Displays, starrte einfach nur noch Löcher in die Glaskuppel der Brücke. Er seufzte noch einmal tief und malte den hundertsten Trauersmiley in seinen kondensierenden Atem auf dem schwarzen Metall.
Lustlos schnippte er den Tennisball noch einmal vom Tisch, hörte, wie er Ebene für Ebene herabhüpfte und James, der kleine Butler-Bot ihm mit unermüdlicher Beflissenheit wieder folgte. Schon vor einer ganzen Weile hatte er von Azur drei dicke Socken um seine nervtötend lauten Klackerbeine geklebt bekommen. Leiser, ja, aber lange nicht mehr so lustig wie noch vor drei Wochen – vielleicht waren es auch vier.
»Kiro? So geht das jetzt schon seit fünf Wochen. Ich lege dir immer noch die Stasis ans Herz. Deine Psyche wird das unter keinen Umständen zwanzig Jahre ...«
Azur strengte sich noch einmal besonders an, um extra-laut zu stöhnen und vergrub das Gesicht in den Pulloverärmeln. »Erwääähn das doch nicht immer. Und nein, ich will nicht in diese blöde Kammer. Noch nicht. Nerv doch nicht damit. Du bist ja schlimmer als mein ... Papa. – Mama ...«, quälten sich die Worte gedämpft durch den Stoff.
Scan fehlgeschlagen. Subjekte nicht detektierbar, verlautbarte ihm die Anzeige.
»Halt deine Klappe!«, schnauzte Azur das Display an und fegte beim Hochschnellen mit dem Arm den Inhalt des Säckchens, der sich klimpernd durch die ganze Kuppel verteilte, vom Tisch. Er stützte sich kraftlos mit beiden Händen an der Reling neben seinem Kommandosessel ab und beobachtete unter sich, wie James damit begann, nebst Tennisball, nun auch die anderen Objekte eifrig wieder aufzusammeln. Er entfloh der Situation, alles wieder von James vor die Nase drapiert zu bekommen und stapfte zurück in die Messe. Pegasus' gelb leuchtende Präsenz folgte ihm still durch die allgegenwärtigen Schiffskonsolen.
Sein knurrender Magen ließ seinen Blick widerwillig kurz in die Kombüse schweifen, doch sein überfüllter Kopf verdarb ihm den Appetit. Er schlurfte weiter ins große Labor.
Völlig verloren zwischen all den Gerätschaften blieb er mit hängendem Kopf mitten im Raum stehen, als stellte er selbst die Sinnhaftigkeit der Fortbewegung in egal welche Richtung in Frage. »Was hat das alles für einen Sinn? Was soll ich denn jetzt tun?«
»Wie wäre es mit etwas Training? Trainingsspiele?«, stellte Pegasus die unaufgeforderte Gegenfrage.
»Spiele?«
»Ja, Spiele bezieht sich auf Modelle. Simulationsspiele mit taktischen und strategischen Anwendungsmöglichkeiten.«
Azur kam diese Formulierung seltsam bekannt vor, dennoch ging er das erahnte Wagnis ein. »Zähle Spiele auf.«
»Falkons Labyrinth – Black Jack – Gin Rummy – Hearts – Bridge – Dame – Schach – Poker ... Luftkampf – Guerillakrieg – Wüstenkrieg – Luft-Boden-Aktionen – Taktische Kriegsführung im Operationsgebiet – Biologische und chemische Kriegsführung im Operationsgebiet – Weltweiter, thermonuklearer Krieg.«
Kurz musste Azur tatsächlich lächeln. Auch wenn es ein Witz mit Ankündigung war. »Danke für den Aufmunterungsversuch, mein Freund. Das ist ... war einer meiner Lieblingsfilme. Sag mal ... können wir uns nicht ein paar ...«
»Leider nein. Die Terraner-Daten sind nur ins Lux-Scriptorium übertragen worden. Im Viadukt der Dra'ák sind sie nicht verfügbar.«
Azur setzte sich auf einen der Arbeitstische und ließ wieder die Mundwinkel hängen. »Und ich dachte, du wolltest mich aufheitern ...«
»Tut mir leid, Kiro. Wir könnten uns natürlich auch einfach unterhalten.«
»Was macht das schon ... Du bist doch eh in meinem Kopf.«
»Nun ja, ich kann komplexe Emotionen analysieren und sie in relevanten Kontext setzen. Aber ich kann nicht deine Gedanken lesen. Ich sehe, dass du, grob zusammengefasst, einsam bist, unglücklich, unentschieden, furchtsam. Du bist orientierungslos und machst dir Selbstvorwürfe. Du stellst deine Existenzberechtigung in Frage und hegst selbstzerstörerische Gedanken. Nebenbei ist dir noch kalt, du hast Hunger. Und dir fehlen visuelle, haptische und sexuelle Reize. Wie ich bereits sagte, währe dir dringend eine Regeneration in Stasis zu empfehlen.«
»Dann weißt du ja doch alles ...«
»Nein. Erzähl mir das Warum. Warum entscheidest du dich dafür, das hinzunehmen?«
Eine volle Minute lang blieb Azur stumm in sich gekehrt, bevor er den Kopf wieder hob und Pegasus' Blinklicht auf der nächsten Konsole ansah.
»Weil ich Angst habe, nicht alle Optionen richtig einzuschätzen. Weil ich bisher jede Entscheidung von anderen Personen abhängig gemacht habe. Das war mir schon früher klar. Und ich habe schon oft das Experiment gemacht, nur auf mich zu hören. Nur jetzt stecke ich in diesem Experiment fest. Es gibt kein Abbruch mehr. Kein Zurück. Weil es niemanden mehr gibt, zudem ich zurück könnte. Weil ich alles verloren habe, was mir wichtig war. Außer mich selbst. Jetzt wünsche ich mir so oft, dass ich lieber mit allen, die ich geliebt habe, zusammen gestorben wäre. Aber dann ...« Er schluckte einmal schwer, dann sah er zur Glastür der Kammersektion hinüber.
»Erzähl weiter, Kiro. Es ist okay.«
»... dann denke ich, dass ich auf sie aufpassen muss. Was passieren würde, wenn ich mich einfach ... wenn ich nicht mehr da wäre ... und sie aufwacht ... Ich ...« Er musste sich erneut anstrengen, zu schlucken und sein Blickfeld rahmte wieder nur den Fußboden. »Ich, ich, ich. Das macht mich zu einem so unfassbaren Egozentriker. Oder einem Egoisten. Ich hasse mich selbst dafür.« Seine Finger um die Tischkante wurden blasser und blasser. »Das ist doch alles derselbe Scheiß wie auf der Erde! Ich dachte, es gäbe dort draußen so viel mehr. Mehr als nur diesen kleingeistigen Mist! Doch umso mehr ich herausfinde, desto mehr wird mir bewusst, dass das Chaos überall herrscht. Scheinbar niemand irgendein großes Ziel verfolgt, das nicht von Egoismus geprägt ist; dessen Erfolg für die Wenigen nicht auf dem Misserfolg Vieler beruht. Ist das überall so, Pegasus?«
»Ja.«
»Ja?«
»Ja. Bisher. Aber du sagst, dass du ein Egoist bist. Ich frage dich: Freiwillig den schwierigen Weg des Lebens durch dieses Chaos auf sich zu nehmen, für jemand anderen, damit dieser Jemand es besser hat, ist das Egoismus? Ich nenne es selbstlos. Zweifelsohne Liebe. Das macht dich vielleicht dumm, fraglich fokussiert, mit Sicherheit zu einem an Wahnsinn grenzenden Romantiker, aber bedeutet das zwangsweise völlige Selbstaufgabe, oder nur völlige Hingabe? Bedeutet, den Blick nach vorn auf ein scheinbar unerreichbares Ziel zu richten, blind zu sein? Oder nur zielstrebiger als die anderen? Seine Vergangenheit begriffen zu haben, bedeutet doch nicht, sie ständig vor Augen haben zu müssen, oder? Was ist schlimm daran, sie hinter sich zu lassen? Sie als Antrieb, als Wand, an der man sich für den Weg nach vorn abstößt, zu benutzen? – Wie würdest du einen Vogel nennen, der aus seinem Ei schlüpft, das Nest erblickt und wieder in die Schale will? Kiro, ... du bist ein Vogelküken, das bereits vom Rand des Nestes gekippt ist. Die bloße Erkenntnis des Umstands, ob dich jemand geschubst hat, du gesprungen bist, oder dich der Wind heruntergeweht hat, ändert doch nichts an deinen Optionen und deinem Küken, das dort hinten noch in ihrem Nest schlummert.« – Kiro hob den Kopf wieder, sah erneut zur Tür mit der Nummer Dreizehn. – »Was wird es sehen, wenn es schlüpft? Was willst du ihm zeigen? Wie man fällt, oder wie man fliegt? Welche Entscheidung triffst du nun zuerst? Welche Entscheidung ist egoistisch? Welche selbstlos? Triffst du wirklich eine freie Entscheidung?«
»Du meinst ... entweder die Entscheidung zu treffen, selbst mit den Flügeln zu schlagen, um dann dem anderen das Fliegen beizubringen ... oder die, es dem anderen beibringen zu wollen, und dafür selbst erst einmal das Fliegen erlernen zu müssen?«
»Ich sehe, du begreifst es.«
»Kausalität und der freie Wille ... Freier Wille oder Kausalität ... so habe ich das noch nie gesehen.« Azur hüpfte vom Tisch wuschelte sich einmal in Gedanken mit beiden Händen durch die Haare. »Danke, Pegasus. Du bist ein guter Gesprächspartner.« Er ging bereits ein paar Schritte in Richtung der Kammersektionstür, blieb dann noch einmal stehen und fuhr sich mit den Fingern durch die strubbelige Frisur. »Du bist ein guter Freund.«
»Gerne, Kiro. Ich glaube, ich lass dich jetzt erstmal allein. Ich werde derweil vorsichtshalber noch einmal deine letzten Testergebnisse analysieren. Bestell unserem Nesthäkchen einen Gruß von mir.« Die gelben Lämpchen in den Laborgeräten erloschen.
Azur entschied sich, doch noch eine Kleinigkeit zu essen, bevor er Neko seinen täglichen Routinebesuch abstattete.
* * *
»Hey, ihr zwei«, flüsterte Azur.
Krume blinzelte verschlafen, setzte sich auf, streckte sich einmal bis in die Schwanzspitze durch und gähnte ausgiebig. »Hraaaf.«
Dann strich er seiner nächtlichen Ablösung kurz mit dem Köpfchen über die Wange, bevor dieser ihn von der geschlossenen Glaskuppel der Kammer hob. Es hatte sich nämlich herausgestellt, dass es nicht von Vorteil war, einäugig im Halbdunkeln aus großer Höhe herabzuspringen. Nach anfänglicher Gegenwehr und Azurs Versprechen, es auch keiner Katzenseele je zu erzählen, akzeptierte der Kater mit verletztem Stolz aber gesunden Knochen die Situation und ließ sich von da an immer peinlich berührt herunterheben.
Ein letzter prüfender Blick des schnurrenden Sicherheitschefs, dann ließ er die beiden für ein paar Stunden allein, um allen wichtigen Katzengeschäften nachzugehen.
Azur öffnete die kleine Kuppel und sofort stieg ihm der vertraute Duft des Flammenkinds entgegen. Gepaart mit der wohligen Wärme, die ihm entgegenströmte, war dies für ihn der schönste Moment des Tages.
Ein kurzer Blick auf die Werte der Anzeigen, ein sanfter Kuss auf ihre glühend heiße Stirn, dann ein kleines Kitzeln in ihrem Nacken, das sie jedes Mal im Schlaf so süß zucken ließ und der Schöpfer war beruhigt.
»Alles in Ordnung, Kleines.« Dann setzte er sich wieder auf den Hocker neben sie, nahm ihre Hand, spielte in Gedanken mit ihren Fingern und erzählte ihr einfach alles, was ihm auf der Seele lag.
»Ich vermisse dich, kleiner Quälgeist. Vermisse dein Rumgezicke. Dein Lachen. Und deine kindliche Art, mir Dinge zu erklären. Apropos Dinge erklären. Dein Kiro hat heute von Onkel Pegasus etwas erklärt bekommen. Darüber denke ich bestimmt noch lange nach. Bis ich es ganz verstanden habe. Ach ja, und wundere dich nicht, wenn er dich womöglich nur noch mit Küken anspricht. Er hat ...«
Neko kuschelte sich im Schlaf in eine wohl bequemere Position. Azur wartete ab, bis sie sich ihr neues, kleines Nest gebaut hatte. Ihre Hand ließ er dabei nicht los.
»... er hat auch so in etwa gesagt, dass Liebe dumm, aber mich zu einem quasi selbstlosen Egoisten macht. Schon komisch, oder? Weißt du was? Wenn er Recht hat, dann muss ich wohl wirklich verdammt dumm nach dir sein. Ich meine, ... nicht dass ich mich ... Ach, vergiss es. Weißt du, es gibt so viele verschiedene Arten von Liebe ... oder Dumm-Sein. Ich weiß, dass du das nicht hören willst, aber ich hab dich unheimlich lieb. Wie meine Eltern, oder meinen Bruder. Bevor du die böse kleine Neko rausgelassen hast, habe ich dich in mein Herz geschlossen, als wärst du meine Imōto-chan, mein kleines Schwesterchen, das ich nie hatte. Aber dann ... jetzt ... ist alles irgendwie anders.
Wenn ich dich deswegen nicht mehr mögen würde, wäre wohl alles einfacher. Aber dann wäre ich nicht hier.«
Er schloss ihre Finger noch etwas fester in seine Hand.
»Ich hab dich immer noch lieb. Bin vermutlich sogar noch etwas dümmer geworden. Aber ich habe keine Ahnung, was es tatsächlich ist. Ich wünsche mir ganz fest, dass du es mir irgendwann klar machst; mir zeigst. Es mir einfach mit einer Handvoll Keks erklärst. Oder mir diese Gedanken ganz liebevoll aus dem Kopf ohrfeigst, mir mit einem Sofakissen den Kopf zurecht rückst. Weißt du noch?«
Neko schien zu träumen, bewegte die Augen unter ihren Lidern hin und her. Azur hoffte, dass sie ihn in diesem Zustand doch irgendwie wahrnahm.
»Wie gern würde ich dich jetzt einfach aufwachen lassen ... dann wär ich nicht mehr so allein. Aber ... dann kann ich nicht auf dich aufpassen. Der olle, dumme Kiro-Vogel kann nämlich selbst noch nicht fliegen. Aber ich versuche herauszufinden, wie ich es lernen kann. Versprochen. Okay?«
Neko drehte sich zu ihm auf die Seite, nahm seine Hand ganz fest in ihre, zog sie bis an ihr Kinn und brabbelte ein paar unverständlich leise Worte.
Am Ende dieses süßen Traumlandmonologs begann sie, an seinem Fingerknöchel zu knabbern. Azurs Herz schlug schneller. Er konnte ihre Eckzähnchen sehen. Ein paar Millimeter länger als noch vor wenigen Wochen. Die Metamorphose schien langsam zu beginnen. Er lächelte; streichelte ihr mit der freien Hand vorsichtig über ihren Kopf. Zwischen ihren Haaren ertastete er die kleinen Erhebungen. Die Hörnchen ihrer eigenartigen Dämonenform, als sie ihren eigenen Kern verschluckt haben muss, waren wieder verschwunden gewesen. Wuchsen sie jetzt doch wieder? Er beugte sich über ihren Kopf, streichelte die Strähnen noch etwas weiter zur Seite. Kleine Knospen, schwarz, nicht größer als ... nun ja, nicht größer als ihre rosa Brustwarzen, fiel ihm unertappt auf. Und genauso weich. Bevor er sie wieder mit dem dünnen Tuch zudeckte, überprüfte er gewissenhaft lieber noch den Rest ihres Körpers oberflächlich auf etwaige Veränderungen. Nichts, was er nicht schon kannte; nicht schon mit Schöpferstolz bewundert hatte. Doch mit welchen überraschenden Veränderungen der Kern in ihr noch aufwarten würde, war nicht vorherzusehen.
Als er ihr die Decke schon wieder bis zum Bauch nach oben gezogen hatte, hielt er inne und grinste. »Ob dir meine kleine Design-Änderung wohl gefällt?«
Er musste ihr unbedingt noch einmal über den Bauch streicheln. Neko streckte sich unter seiner Berührung und rollte wieder flach auf den Rücken – und begrub somit die Decke unter sich. Seine Hand hielt sie noch immer fest umklammert. Azur dimmte das Licht in der Kuppel, das ihr ins Gesicht schien. Minutenlang wartete er, dass sie sich noch einmal auf die Seite drehte und die Decke wieder freigab. Doch sie machte keine Anstalten.
Er beobachtete, wie sich ihre Brust gleichmäßig langsam hob und senkte. Verlor sich in dem sanften Rauschen der Luft, die sie ruhig durch ihre Nase ein und ausatmete. Durch seine halb geschlossenen Augen folgte er in wachsender Trance seiner Handfläche. Wie samtweich sich ihre Haut anfühlte. Über ihren Wangenknochen. Ihrem schlanken Hals. Die Wölbung ihrer Brüste. Die Haut nahe ihrer Achsel. Die Kurven ihrer Flanke. Hüfte. Ihr glühender Oberschenkel. Unterschenkel. Die schmalen Füße. Ihre kleinen Zehen. Ihre Fußsohlen, wie Samtpfötchen.
Azurs Augenlider wurden schwerer. Fielen immer länger zu. Fühlen reichte vollkommen. Ob sich das andere Bein anders anfühlen würde? Dieselben seidigen Kurven. Auch die Wade. Ihr Oberschenkel. Doch die zarteste Haut spürte seine Handfläche unter ihrem Bäuchlein auf. Einen wohlklingenderen Namen fand der Schlichter nicht. Das erhabene Gefilde einer wahren Göttin von Schönheit und Sinnlichkeit. Ein Traum, zu dem Kiro sich nun erschöpft legte.
Als sie sich mit einem tiefen Atemzug zu ihm drehte, sich Stirn an Stirn an ihn schmiegte, zog Azur ihr noch das Tuch wieder über ihren Körper. Dann drifteten sie gemeinsam ins Traumland. In Gedanken an Zweisamkeit und Shivas Leib; im gemeinsamen Wunsch nach Kraft.
Den Schlaf umarmt legte Kiro seine Hand an Nekos Rücken.
* * *
Azur träumte. Träumte von Shiva. Träumte, dass er schreiend bei lebendigem Leibe verbrannte. Träumte von Philia, mit der er lauthals lachend am Strand tobte und spielte. Träumte von einem Heer von Toten, das ihn aus vertrauten Gesichtern anklagte, ihn verfolgte, festhielt, in die Tiefen des Alls zerrte und ihn mit Klauen und Zähnen zerfetzte, ihn fraß. Träumte von Serva – S.E.R.V.A. – Service-Einheit zur Regulierung, Versiegelung und Allzweckverwendung – Allzweckverwendung. Träumte, wie er sie benutzte, mit ihr neue Wesen erschuf. Träumte von ihrem Kugelrunden Bauch. Wie sich etwas in ihr bewegte, aus ihrem Leib zu brechen versuchte. Kiros Hand tastete unter der Decke an Nekos Bauch.
»Aua!« Er schreckte hoch, war wieder wach. »Was zur ...?«
»Hrrraff!« Der Sicherheitschef hatte sich zwischen ihre Bäuche gedrängelt, und sorgte nur für eine, ein paar scharfe Krallen breite, neutrale Zone.
»Du nimmst deinen Job manchmal echt zu ernst, Krume-chan.« Azur rieb sich den Schlaf aus den Augen. Er war nur etwa zwei unruhige Stunden eingenickt. Er fühlte sich alles andere als ausgeruht. Eher zermartert und schwer wie Blei.
Als er die Beine behäbig über den Rand der Kammer schob, merkte er, dass ihn etwas nicht so einfach davonkommen lassen wollte. Neko hielt den Saum seines Shirts mit beiden Händen fest umklammert. Ein verlegener Blick in ihr Gesicht, aber natürlich schlief die Kleine noch. Azur zog etwas kräftiger am Stoff, doch Nekos Fingernägel krallten sich entschlossen daran fest. Keine Chance. Nachgiebig manövrierte er sich umständlich aus seinem Oberteil und vom Rand der Reinkarnationskammer. Sofort zog Neko Arme und Beine an und verzog das Gesicht, als würde sie frieren. Die Nase dann tief in das warme T-Shirt gekuschelt, saugte sie sofort dessen Geruch tief in ihre Lungen – und entspannte sich wieder. Azur fuhr ein warmer Schauer durch den Körper. Krume zog ihr die Decke mit den Zähnchen über die Schulter und hüpfte allein über den Hocker wieder auf den Boden.
Neko begann an einem Ärmel des Shirts zu knabbern und träumend zu murmeln: »Deh-nich-eg Ki-u-nich-tö'n«.
Azur konnte nur frei interpretieren und schmunzelte. Er beugte sich noch einmal zu ihr herunter und gab ihr einen Kuss auf den Mundwinkel. »Kiro kommt doch wieder. Schlafe fein und mach dir keine Sorgen.« Als er leise die Glaskuppel schloss, sabberte sie noch süß ein »All-tot« in ihr neues Kuschelshirt. »Ja, alles wird gut«, wiederholte er ihre vermutliche Aussage. Ein letzter Blick auf die Armaturen, dann einer zu Krume, der schon wieder zum Sprung nach oben aufs Glas ansetzte. »Nein, Kleiner. Dein Platz ist vorläufig hier.« Er klopfte mit der Hand auf den Hocker. Krume legte nur den Kopf schief. »Ich kann dich in nächster Zeit nicht runterheben, weißt du? Ich habe mich dazu entschieden, mich auch erstmal für eine Weile auszuruhen.« Er nickte zu der zweiten, längst vorbereiteten Kammer hinüber. »Die Einstellungen werde ich gleich mit Pegasus noch ein letztes Mal durchgehen. Dann muss ich dich für eine Weile mit ihm und James allein lassen. Okay?« Krume nieste einmal kräftig, sprang dann auf den Hocker und setzte sich. »Du kannst leider nicht in Stasis. Brauchst du auch gar nicht. Da bin ich mir inzwischen sicher. Außerdem vertraue ich den Sicherheitsprotokollen nicht wirklich, deshalb ist es ganz gut, dass noch jemand hier draußen wach ist, auf den ich mich im Notfall verlassen kann.« Krumes Köpfchen wurde ordentlich durchgewuschelt.
»Hraff, aff-pass!«, bestätigte der Kater mit einem schnellen Nicken.
Ein letzter langer Streichler von der Fellnase bis zur erhobenen Schwanzspitze, dann machte sich Azur auf den Weg zur Brücke.
* * *
»Hey, Pegasus. Was macht die Analyse?« Er ließ sich auf den Kommandantensessel plumpsen und stützte sein Kinn auf beide Hände.
»Alles abgeschlossen. Willkommen zurück. Geht es dem Küken gut?«
»Ist fleißig am ausbrüten, würde ich sagen. Alles bestens. Erzähl, was schlägst du für meine Stasis vor?«
»Du hast dich doch zur Reise-Stasis entschieden?«
»Hab ich. Aber nur Etappenweise, denke ich.«
»Nun gut. Die Protokolle sind eingerichtet. Abwechselnde Schlaf- und Wachphasen sind kein Problem. Du kannst sie am Display vor dir manuell einstellen.«
»Nicht nötig. Koppel sie bitte an die Vorbeiflugzeiten der Standorte, die wir schon festgelegt haben. Bei gleichbleibender Geschwindigkeit.«
»Erledigt. Sprungpunkte sind eingerichtet. Vorgemerkt unter Bildungsreisen. – Dürfte ich noch vorschlagen, dass du dir deine fehlerhaften Terraner-Zellen während der Stasis ersetzen lässt?«
»Was für fehlerhafte Zellen?«
»Ich verstehe die Frage nicht.«
»Habe ich sowas wie einen Tumor? Welche Zellen sind denn fehlerhaft?«
»Nun, das sagte ich bereits. Alle terranischen Körperzellen.«
»Ich hoffe, du scherzt. Das würde mich ja zu einer Kopie meiner selbst machen. Nein danke.«
»Bist du dir sicher? Dein Körper ist vom Modell 1.0.0.2. Veraltet, könnte man sagen. Es ist auch möglich, sie nur in Teilen zu upgraden. Eigentlich exakt die gleiche Prozedur, wie du sie unserem Killer-Küken hast angedeihen lassen.«
Azur überlegte. Er fühlte sich nach dieser Aussage ziemlich unwohl.
»Das ist was anderes! Bei ihr ... Das musste sein. Bei mir kann ich doch nicht selbst Gott spielen!«
»Warum nicht? Wie wäre es mit einem gescheiten Sixpack, einer Nasenkorrektur oder Erhöhung der erektilen ...«
»Hey, nicht frech werden! Danke, ich fühle mich wohl, so wie ich jetzt bin. Außerdem bin ich bei Ankunft auf Tartaros, nach jetzigem Zeitplan« – er scrollte ans Ende seines aktualisierten Stasis-Phasen-Plans. – »Moment ... sechs, sieben, acht Wachphasen á ... Sechzehn Jahre schlafen ... Ja, auch vier Jahre älter als jetzt. Das reicht mir fürs Erste.«
»Gut, keine elf Sinne, keine Telekinese, keine Laseraugen ...«
»Das geht?!«
»Nein. Selbstverständlich nicht. Sollte ein Scherz sein.«
»Ha-ha. Ich lache dann in zirka zehn bis zwanzig Jahren drüber.« Neugierig sah Azur jetzt dennoch in der Rubrik möglicher Veränderungen nach.
»Hast du doch noch einen Änderungswunsch für die Regenerationsphase?«
»Naja, das hier. ›Trans-... Inter-... Lingu-Dingsbums‹. Könnte nützlich sein. Ich schau doch nochmal die Liste durch. Du kannst die Kammer schon hochfahren. Und check sie bitte ein letztes Mal. Bin gleich da.«
»Selbstverständlich, Kiro. Bis gleich.«
* * *
Fünf Minuten später stand der angehende Marathonschläfer, noch wie die Götter ihn ursprünglich geschaffen hatten, vor der geöffneten, aktivierten Stasis-Kammer Nummer 7. Mit den Händen auf den Rand gestützt starrte er in Gedanken verloren in seine künftige Ruhestätte. Pegasus' gelbes Licht blinkte geduldig in der Konsole. Bis auf Krumes gleichmäßiges Schnurren vom Hocker war es mucksmäuschenstill.
Azur wartete, ob ihm sein Bauchgefühl noch etwas Entscheidendes mitteilen wollte, doch sein Innerstes schien bereits seelenruhig zu schlummern.
Ein tiefer Seufzer, dann kletterte er hinein und versuchte, es sich so bequem wie möglich zu machen. Es war kühl. Nicht kalt, aber er vermisste schon jetzt den allabendlichen Wärmeaustausch mit der nebenan friedlich träumenden Schlafmütze, zu der sein wehmütiger Blick noch einmal schweifte. »Mach's gut, kleines Küken. Wir sehen uns im Traumland. Und im Wimpernschlag von läppischen zehn Jahren, zu meiner ersten Wachphase, komm ich wieder zu dir. Versprochen.«
Noch weitere drei Minuten verstrichen, bis Azur sich die kleine Decke auch korrekt über den Körper gezupft hatte. »Pegasus?«, fragte er mit gedämpfter Stimme.
»Ich bin hier. Alle Systeme laufen einwandfrei. Kann es losgehen?«
Azur nickte bloß. Seine Stimme war wohl schon kurz eingenickt.
Pegasus' Leuchten wechselte ins Head-up-Display der Kuppel. »Verstanden. Initiiere...«
»Halt, warte kurz!«, erwachte Azurs Stimme doch noch einmal. »Krume?«
Das leise Schnurren verstummte und wenige Sekunden darauf tauchten erst zwei Pfötchen, dann das Köpfchen des kleinen Katers über dem Rand von Azurs Kammer auf. »Ich weiß, du kannst es bestimmt langsam nicht mehr hören, aber pass gut auf unsere Freundin auf, ja? Sie wird sich bestimmt etwas verändern in der nächsten Zeit, aber das ist normal, okay?« Krumes Pfötchen patschte ihm einmal auf seine Hand. Dann ein zuversichtliches Gähnen und der Wachhabende bezog wieder seinen zugewiesenen Posten. »Und nicht auf die Kuppel springen, hast du gehört? Du weißt ja ...« Ein langgezogenes Maunzen war die Antwort. »Gut.«
Pegasus räusperte sich. »Jetzt bereit?« Azur rückte sich erneut millimetergenau zurecht. Seine Füße mussten schon akkurat unter der Decke liegen. Dann nickte er zufrieden. »Gut. Systeme fahren hoch. Initiiere jetzt ...«
»Halt, warte, warte! Warte noch kurz! Kannst du die Schleusen von hier bis zur Brücke öffnen? Und lass sie einfach offen, okay?«
Pegasus' Lämpchen blinkte kurz. »Erledigt. Und nun?«
»Warte kurz.«
»Jaaa, ich warte kurz ...« Das gelbe Lämpchen begann geduldig zu pulsieren.
Eine Minute später stakste James angestrengt in die Sektion und bis vor die Kammer. Azur schmunzelte, als dieser ihm mit einem seiner Werkzeugarme quietschend zuwinkte, während ein anderer das kleine Ölkännchen hochhielt. Azur beugte sich aus der Kammer und verabreichte ihm in alle Gelenke verteilt den Kompletten Inhalt. James nahm ihm die leere Kanne dankbar wieder ab und hielt ihm dafür jetzt ein kleines Metallobjekt an einer Kette baumelnd vor die Nase.
»Was ist das?« Azur musste ein paar Zentimeter zurückweichen, damit er es erkennen konnte.
Pegasus übersetzte simultan das Piepsen und Gestikulieren des mechanischen Helfers. »Das hast du verloren. Das habe ich aufgeräumt. Habe es repariert.«
Azur nahm das kleine Amulett entgegen und staunte nicht schlecht. Der kleine Roboter brachte ihm den Inhalt des Säckchens. Aber entweder aus einer Fehlfunktion, oder einem unwahrscheinlichen Anflug von Kreativität heraus hatte er die Teile irgendwie ineinanderrepariert.
Tessas Ring war nun mit Kalis verbogenem Medaillon verbunden. In die lange Kette waren Amors und Licentias Haare geflochten. Und innerhalb des kleinen Anhängers funkelten orange die letzten Eichenblättchenhälftenreste; tanzten mintgrün Kalis letzte kleine Musenessenzphiolensplitter.
Der Schlichter war gerührt. Besser hätte er es nicht kombinieren können. »Hast du fein gemacht«, lobte er ihn, hängte sich den neuen Talisman um seinen Hals und tätschelte James-Bot den Blechkopf. Dann legte er sich wieder hin. Den Tennisball, den James ebenfalls vorsichtshalber mitgebracht hatte, warf Azur durch die geöffnete Tür hinaus ins Labor und James klapperte freudig hinterher.
»Okay, Pegasus. Ich vertraue dir. Halt uns auf Kurs und den Blecheimer irgendwie zusammen, wenn es geht. Wir sehen uns dann später.« Er schloss beruhigt die Augen. »Jetzt kannst du die Stasis initiieren.«
Zehn Sekunden lang kam keine Antwort. – Dann ein »Oh-oh!«
Azur öffnete mit erhöhtem Puls schlagartig die Augen wieder.
Pegasus begann zu lachen. »War nur ein Spaß. Bist du dir nun sicher? Oder soll ich nochmal nur kurz warten?«
»Wenn ich wieder wach bin, reden wir mal über deinen Humor, mein Freund. Mach's gut.«
Die Kuppel schloss sich. Die Auflistung aller Einstellungen raste in Pegasus-Gelb über die Displays. Und Azur schlief friedlich ein.
»Genesis-Protokoll 1 wird ausgeführt. – Stasis hergestellt. – Nicht essenzielle Schiffssysteme werden abgeschaltet. – Freie Energie in Antriebsleistung umgeleitet. – Kammer-Automatik aktiviert. – Kommandantur-Übernahme durch P.E.G.A.S.U.S. – Schlaft schön, ihr ... drei bis sechs kleinen Wesen.«
Und die verdunkelte Vindicta folgte weiter ihrer Drift, auf dem Heimweg, durch die Farben des strahlenden Wissensviadukts.
Auf das Ende zu. Das Ende ihrer Reise des Zerfalls. An das Ende eines greisen Welten-Alls.
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